24.10.2016

Ein Lesebuch jenseits der Klischees

Veranstaltungstipp der Woche: Buchvernissage Appenzeller Anthologie.

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Das literarische Appenzellerland der letzten gut 100 Jahre in einem Band: Das ist die Appenzeller Anthologie, ein Projekt der Ausserrhodischen Kulturstiftung, unter dem Titel «Ich wäre überall und nirgends». Am Freitag 28. Oktober ist Buchvernissage im Zeughaus Teufen.

Spricht man vom Appenzellerland, so sind Klischees fast unvermeidlich: Bläss und Kuh, Sennen und Silvesterchläuse, Streusiedlung und Alpsteinpanorama oder, für Fortgeschrittene, die frühe Industrialisierung und das harte Los der Heimarbeiterinnen. Von all dem ist in der Appenzeller Anthologie auch zu lesen – aber es öffnet zugleich den Blick auf weniger bekannte, die tradierten Bilder unterlaufende Appenzeller Eigenheiten.

Mehrere Jahre lang hat die sechsköpfige Redaktion geplant, gesammelt, gesichtet, ausgewählt und verworfen. Das Ergebnis, auf rund 600 Seiten, ist erst- und einmalig für das Appenzellerland: ein Lesebuch von 1900 bis zur Gegenwart, vielstimmig und inspiriert. Klingende Namen wie Robert Walser, Hermann Hesse, Helen Meier, Julius Ammann oder Werner Bucher stehen neben unbekannteren, in Vergessenheit geratenen und ganz jungen Autorinnen und Autoren. Das Titelzitat stammt aus Peter Morgers Erstling «Notstrom».

Spiegel einer modernen Region

Die hier versammelten Texte erinnern Kindheiten und Sterbefälle, loben alpine und gesellschaftliche Weitsicht oder kritisieren die dörfliche Enge, schildern Arbeitsalltag, Beziehungen und Persönlichkeiten; sie schreiben von zuinnerst oder kommen von weit aussen, auf Durchreise, auf der Flucht, sie gehen weg, rebellieren, spintisieren. Sie sprechen Schriftdeutsch und diverse Dialekte, erproben konventionelle und riskante Formen, treten in überraschende Dialoge über ein Jahrhundert hinweg.

In zehn Kapiteln zeichnen die Texte und die ergänzenden Wort-Bilder dieser Anthologie das Bild einer so selbstbewussten wie selbstkritischen Region, in der sich Traditionen halten und erneuern, in der sich aber, nicht weniger als in den Metropolen, die Verwerfungen und Modernisierungsschübe des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts nachlesen lassen. Die Texte dieses Buchs reden von einem Appenzellerland, das am Rand der Schweiz liegt und mitten in der Welt ist und das neu zu entdecken sich lohnt.

Erstmalig im Buch, ergänzt im Netz

Die Anthologie ist eine Initiative der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Sie versammelt Texte und Wort-Bilder von gegen 200 Autorinnen, Autoren und Kunstschaffenden. Sie ist die erste ihrer Art, mit umfassendem Blick auf das literarische Schaffen beider Appenzell von 1900 bis zur Gegenwart – und, dank Webportal www.literaturland.ch, in die Zukunft hinein. Die Printversion der Appenzeller Anthologie erscheint im Appenzeller Verlag Schwellbrunn.

Vernissage in Teufen

Die Buchvernissage findet am Freitag, 28. Oktober 2016 um 19 Uhr im Zeughaus Teufen statt, mit Landammann Matthias Weishaupt, Landammann Roland Inauen, den Schauspielern Philipp Langenegger und Anna Blumer, Maultrommelmusik von Peter Weber/Michel Mettler, Worten der Herausgeber und Liedern mit dem Chor Wald. Anschliessend: Essen und Trinken. (pd)

Vernissage: Freitag, 28. Oktober, 19 Uhr im Zeughaus mit Texten, Reden, Musik 

Landammann Matthias Weishaupt
Landammann Roland Inauen
Jeanne Devos, Sprecherin
Philipp Langenegger, Sprecher
Peter Weber und Michel Bettler, Maultrommeln
Chor Wald
Anschliessend: Essen und Trinken

 

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Wortkunst als Land-Art: Aus H.R. Frickers Serie „Topographie – Fotographie“, 1976-1978. Bild: Appenzeller Anthologie

„Ich wäre überall und nirgends“ Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgeber: Rainer Stöckli, Peter Surber, Eva Bachmann, Heidi Eisenhut, Doris Ueberschlag, Peter Weber.Appenzeller Verlag 2016; 170×240 mm; 700 Seiten

ISBN 978-3-85882-733-3  Fr. 48.00

ZITATE
Diese Wörter liegen noch immer über der Landschaft.

— Aus Dorothee Elmigers Roman Einladung an die Waghalsigen, 2011
Seelig: Si räned sich no emal s Herz ii, Herr Walser.
Walser: Me gseht hüt meh als s letscht Mal. Säntis. Hohe Chaschte. D Vorarlberger.
Seelig: De Hügel deruff räne und rauche dezue isch nüd grad gsund.
Walser: Das Dorf det unge isch Gonte. Da isch emol en Mord passiert.
Seelig: Ja was. I dem Schpilzügdörfli.

— Aus Gerold Späths Hörspiel Walser Seelig Koch, 1995
Set de Schwaane Choret s eerscht Automobiil
ond de Fortschrett ase grüemt hed, ischt scho
en Blätsch Wasser de Rhii aab glaufe. Hüt
wimslets gad eso vo Auto, Velo ond Töff.

— Ida Niggli, 1964 öber eren Grosvatter
Gegen-Stände millimeterlen
«What a little Moon Light can do»
Wie ein kleiner Finger schmerzen kann
Mit gewissen Ver-Lusten muss man leben

— Notizen Peter Morgers, 2000
seine
spazierliche Wohlaufgelegtheit will eher
voraussetzen, so ein hübsches Dörflein
sei nicht ein ständ’ger Kampf um Mein und Dein,
und wer drin wohnte, müsste glücklich sein.

 Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet, 1928
In einer solchen Nische sitze ich, hinter winzigkleinen Fenstern und Vorfenstern, zu Gast in einem Appenzellerhaus im hintersten Talwinkel, wo die Nebelfeuchte ins Kraut schiesst, wo Regenfälle ausdauernder als anderswo sind und manches Haus nachts unverschlossen bleibt, ja wo viele Türen noch nicht einmal Schlösser besitzen, weil die Wände dünn und die Hunde hellhörig sind.

 Aus: Michel Mettler: Die Wortsüsse des Augenblicks. Nachwort zu Robert Walser: Der Räuber. Suhrkamp, 2006.
Ich habe das Gefühl, schon seit Jahren, schon immer am Wesentlichen vorbeizutreiben, ohne es erfassen zu können. Ich würde gerne Räder vorwärts drehen, Böden aufbrechen, die Erde erschüttern. Es brodelt. Vielleicht passt Stein zu mir. Vielleicht unterbricht das Bohren das Warten auf Erlösung. Ich sage zu.

— Aus: Eva Roth, Blanko. edition 8, 2015

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