Nostalgischer Rückblick auf eine Kindheit im Spörri

07.02.2012 | TPoscht online
Das Gartencafé, ein beliebter sommerlicher Treffpunkt; rechts der 1959 vergrösserte Vorbau mit dem erweiterten Café.

Eine grosse Trauergemeinde verabschiedete sich am Dienstag, 16. Juli in der Grubenmannkirche von Peter Spörri, dem letzten Inhaber des gleichnamigen Teufner Cafés. Er starb im Alter von 92 Jahren. An der Abschiedsfeier wurden Auszüge aus den von Sohn Hanspeter verfassten Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in der längst entschwundenen Welt des berühmten Cafés vorgelesen. Der Beitrag, der im Februar 2012 in der Tüüfner Poscht erschien, lässt diese Ära nochmals aufleben.

* Hanspeter Spörri

Manchmal werde ich gefragt, warum denn eigentlich das Café Spörri ein so besonderer Ort gewesen sei. «Vielleicht wegen der Sorgfalt, die auch auf Details verwandt wurde?», mutmasse ich dann: Immer sorgte mein Vater dafür, dass die Vorhänge beim Eindunkeln gezogen wurden. Als dies später manchmal nicht rechtzeitig erfolgte oder ganz unterblieb, wurde die Atmosphäre im Lokal abends fröstelig, und die Gäste blieben weg.

Ich kann unzählige vergleichbarer Kleinigkeiten aufzählen, auf die meine Eltern ständig ein Augenmerk hatten: Die immer frischen Blumen; der Kaffeerahm, der täglich aus Milch und Rahm gemischt wurde; das ausgesuchte Öl für die Salatsauce; die zum Stil des Hauses passenden Bilder und Antiquitäten…

Albert Mansers erstes «Böldli»

Im «Spörri» aufzuwachsen war wohl etwas Ungewöhnliches. Das Café war sozusagen Stube und Spielzimmer. Schwach erinnere ich mich an das einfache Lokal vor dem Umbau. Mein Grossvater hatte den Betrieb 1931 gekauft.

Er war ein weitgereister Mann gewesen, hatte als Patissier in guten Hotels im Ausland, aber auch im Kurhaus Weissbad gearbeitet und dann das Berggasthaus «Chräzerli» an der alten Schwägalpstrasse übernommen.

Das stattliche Appenzellerhaus um 1930 – noch ohne Café-Vorbau. Fotos: Archiv Spörri

In meinen frühen Erinnerungen sehe ich ihn am Herd stehen. Er war auch ein guter Koch. Und er sammelte Appenzeller Bauernmalerei. Albert Manser, der verstorbene Innerrhoder Bauernmaler, war damals als Konditor im «Spörri» angestellt. Ich sehe ihn noch, wie er meinem Grossvater sein erstes «Böldli» (Innerrhodisch für kleines Bild) zeigte, der dafür anerkennende und aufmunternde Worte fand.

Das Café von Jakob Spörri – wie es von 1932 bis 1959 existierte.

Das war Ende der 50er Jahre. Ich besuchte den Hörli-Kindergarten. Und ich glaube, die Kindergärtnerin, die wir nur als Tante Milli kannten, war ziemlich neidisch auf mich, der ich im Schlaraffenland wohnte. Jedenfalls musste ich meistens neben ihr sitzen, wenn sie vorlas, «in Ohrfeigennähe», wie sie sagte. Die Erwachsenen, auch der Schulhausabwart, tuschelten manchmal über sie, erwähnten verstohlen, dass sie allzu viele «Stöckli vom Spörri» verzehre. Irgendwie fühlte ich mich dadurch mitbetroffen.

Wir Kindergärtler mussten vor dem Nachhausegehen Tante Milli jeweils die steile Gremmstrasse hinauf stossen, bis zum Haus gegenüber der «Rose», und dort auch noch die enge Treppe hoch, die zu ihrer Wohnung führte. Es war ein seltsames Gefühl, zu siebt oder acht die Kinderhände nach Kräften tief in den weichen, weiten Hintern unserer «Tante» zu drücken. Manchmal brummten wir bei dieser Schwerarbeit wie ein Traktor. Die Erinnerung – fast die deutlichste meiner Kindergartenzeit – stieg wieder auf, als ich während der Konditorlehre jeweils den Laugenbrötli-Teig aus der Knetmaschine hob und die Hände in der weichen, weissen Masse versenkte.

Ein Vater, der «spinnt»

Das Café Spörri war im Jahr 1959 eine Baustelle. Eine Baracke auf dem Trottoir vor dem Haus diente zuerst als Ladenprovisorium, während der zweiten Bauetappe dann als Café. Meine Eltern, die den Betrieb einige Jahre zuvor übernommen hatten, entschlossen sich, einen grossen Umbau in Angriff zu nehmen. Der Leiter der Teufner Kantonalbankfiliale fand allerdings, die Pläne seien übertrieben. Mein Vater kam einmal aufgeregt von einer Besprechung nachhause. Der Bankverwalter habe gesagt: «Sie spinnen! » – «Dann spinne ich halt», sagte mein Vater trotzig. Ich wusste nicht recht, was das heissen sollte, vermutete aber, dass es nicht so schlimm, vielleicht sogar eine Auszeichnung sei.

Die festliche Eröffnung des Cafés samt Laden fand am Montag, 4. Januar 1960 statt. Viele geladene Gäste waren da, ein eindrucksvolles kaltes Buffet stand bereit. Gemeindehauptmann Walter Mösli hielt eine Rede, alt Gemeindehauptmann und Konditormeister Ernst Tanner, dem mein Grossvater den Betrieb abgekauft hatte, ebenfalls. Architekt Ernst Roder schilderte die Phasen des Umbaus, und der St.Galler Nationalrat Paul Bürgi überbrachte die Grüsse des Gewerbevereins.

«Ort der Entspannung»

Meine Eltern haben die vielen Zeitungsausschnitte zu jenem Anlass aufbewahrt. Der Berichterstatter des «Säntis» schwärmte von der «bodenständigen Materialechtheit», von «Qualitätsmaterial und Qualitätsarbeit»: «Hier wurde auf der ganzen Linie nicht gespart oder dem blendenden Zeitalter der Kunststoffe oder Mode gehuldigt.» Teppiche, Licht, Farben und Vorhänge kontrastierten und harmonierten angenehm und einladend, heisst es weiter im «Säntis»: «Dabei bekommt man absolut nicht den Eindruck von pompös oder luxuriös, sondern man beurteilt das Ganze richtiger nach Appenzeller Art als zeitlos schön und für dich und mich als Ort der Entspannung und Erholung geschaffen.»

Vom ersten Tag an war das Café fast stets gut besetzt – und an Wochenenden übervoll. Meine Eltern waren fast immer im Laden und im Café anzutreffen. Sie begrüssten und verabschiedeten Gäste, plauderten mit ihnen über dies und das. Manchmal führten sie Leute zusammen, von denen sie annahmen, sie würden sich gegenseitig gut verstehen.

Auch Grossvater Spörri war oft im Geschäft. Er legte Wert darauf, die Gäste mit ihrem Titel anzusprechen: Herr Oberst, Frau Landammann, Herr Professor. Meine Mutter begrüsste sie jedoch bloss mit ihrem Namen. Manchmal entstand daraus ein kleiner Konflikt. Wenn ich heute daran denke, erscheint mir das als ein Symptom dafür, wie die Zeiten sich ändern. Dem Herrn Oberst war die Erwähnung seines Titels bereits damals eher unangenehm.

Meine Eltern wollten, dass das Café ein Ort für jedermann sei, ein Ort mit einer gewissen Distanz zum Alltag. Mittwochs kamen beispielsweise oft Gewerbeschüler, die eine unterrichtsfreie Stunde im Café verbrachten. Vor allem die Metzgerlehrlinge waren laut und störten mit ihrer ungehobelten Art manchmal andere Gäste. Was tun? Rauswerfen? Das war nicht der Stil des Hauses. Meine Mutter hatte eine bessere Idee. Als die Gruppe am nächsten Mittwoch wieder fluchend und rempelnd Platz genommen hatte, stellte sie eine Platte Cremeschnitten auf den Tisch: «Auf Rechnung des Hauses, weil Sie so nette und treue Gäste sind!» Die verdutzten jungen Männer bedankten sich ergriffen und verhielten sich fortan so, wie es dem Ort angemessen war.

Eine ähnliche Erfahrung machte man mit den trinkfesten norwegischen HSG-Studenten, die in St.Galler Restaurants gefürchtet waren und vielerorts Lokalverbot erhielten. In Teufen waren sie stets höfliche und dankbare Gäste.

«Mit Butter?»

Bei den seltenen gemeinsamen Ausflügen mit meinen Eltern – die an meinen schulfreien Tagen meistens arbeiteten – testeten wir die Produkte anderer Konditoreien, verglichen sie mit den eigenen. Die entscheidende Frage lautete immer: «Mit Butter?» Wurde sie bejaht, war man des Lobes voll. Wenn aber Margarinegeschmack spürbar war, hiess es: «Schade!» Das war zu einer Zeit, als die Margarine-Industrie einen teuren Werbefeldzug führte, um die Butter als ungesund zu brandmarken, die Margarine als billigere und bessere Alternative anzupreisen. «Alles Lüge!», glaubten meine Eltern: «Nichts ist so gut und gesund, wie das Natürliche und Frische».

Die Ladenfassade nach dem Umbau von 1980.

Auch beim Frühstück und beim Mittagessen drehte sich das Gespräch oft um Fragen der gesunden Ernährung, die meiner Mutter, der Tochter einer Naturärztin, ein grosses Anliegen war. Und sozusagen täglich wurde über die Qualität von Pralinémassen, Erdbeertörtchen- Bödeli, Buttercremen oder Glace-Rohstoffen diskutiert. Für die Mandarinen-Glace waren beispielsweise «richtige Paterno-Mandarinen» unerlässlich. Wenn sie erhältlich waren – was nur während weniger Wochen im Jahr der Fall war – beschaffte man so grosse Mengen, dass ein Jahresverbrauch an Mandarinenmark eingefroren werden konnte. Am Produktionstag füllte der unvergleichliche Duft das ganze Haus. Heute, so glaubt mein Vater, hätten die Mandarinen leider gar keinen Geschmack mehr.

Im Rückblick gesehen war mein kindliches Verhältnis zu Süssigkeiten sozusagen wissenschaftlich-analytisch. Ich empfand das als ganz normal. Bei Höheners, die schräg gegenüber vom Café Spörri die Metzgerei Anker betrieben, vermutete ich, das Tagesgespräch drehe sich um Cervelats und Kalbshaxen. Und bei den Arztfamilien Bruhin und Wiesmann nahm ich an, im Mittelpunkt der Gespräche stünden Beinbrüche und Grippen, Platzwunden und Kopfschmerzen.

Wandel der Kaffee-Kultur

Die Frühzeit des Café Spörri war auch die Zeit des Wandels der Kaffeekultur, der Umstellung von Filter- zu Kolbenkaffee. Kaffeemaschinen waren damals so teuer wie ein Auto und dabei äusserst störanfällig. Nur die beste konnte also gut genug sein. Stundenlang sass ich mit meinen Eltern an der Olma und anderen Messen in den Verkaufsständen der Produzenten, wo sie Kaffee degustierten. Am besten schnitt die Schweizer Firma «Schaerer» ab, die damals die erste automatische Kolbenkaffeemaschine entwickelt hatte; später schob sich die italienische Cimbali nach vorne, als der Geschmack des Publikums immer «italienischer» wurde.

Im Café Spörri kollidierten manchmal die Geschmäcker: Während die einen noch den gewohnten Filterkaffee bevorzugten, oder den Mokka ohne Schäumchen nach deutschem Vorbild, kamen andere nach und nach auf den Espresso-Geschmack.

Das Café Spörri nach der Renovation von 1975.

Nach Wiener Vorbild

Vielleicht das wichtigste Thema aber war die Kaffeehaus-Kultur: Inspiriert waren meine Eltern von den Wiener Kaffeehäusern. Deren real existierende Varianten schnitten allerdings bei Besuchen in der österreichischen Hauptstadt nicht gut ab – jedenfalls nicht im Bereich der kulinarischen Qualität. Die Butter fehlte! Die unvergleichliche Atmosphäre dieser Häuser, die Toleranz und Weltoffenheit, die in ihnen zu herrschen schien, waren aber höchstes Vorbild.

Der Laden nach dem erneuten Umbau von 1980.

Daran erinnert sich auch ein ehemaliger Gast: Wolfgang Schürer kam 1966 nach St.Gallen, um zu studieren. Professor Georg Thürer, der in Teufen wohnte, wurde sozusagen sein Mentor. Auf Schürers Frage, wie und wo er mehr über die richtige Schweiz lernen könne, empfahl ihm Thürer, einfach das Café Spörri aufzusuchen. Hier komme er in Kontakt mit interessanten Menschen.

Wolfgang Schürer, der sich schliesslich in St.Gallen als Unternehmer und Berater niederliess und kürzlich seine Abschiedsvorlesung als HSG-Professor hielt, schätzte vor allem die «persönliche Atmosphäre des Café Spörri, verfeinert durch das, was man zu sich nehmen durfte.» Für ihn, den deutschen Studenten, sei es fast ein zweites Zuhause geworden – und tatsächlich auch ein Ort, wo er ein Gefühl für die Schweiz erhielt, Kontakt knüpfen konnte zu Leuten verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft, mit denen interessante Gespräche zu führen waren. «Denn als Student und Ausländer lernst du an der HSG nur andere Studenten kennen. Im Café jedoch gelang es den Eltern Spörri manchmal ganz nebenbei, Gespräche in Gang zu setzen mit Leuten, die ich noch nicht kannte.»

Auch für mich, den kleinen Spörri, war es damals spannend, solchen Gesprächen zu lauschen oder mich einzumischen. Am Samstag, 5. September 1970, lud ich unter anderen Wolfgang Schürer und Hans Höhener an mein kleines Fest zum 17. Geburtstag ein – ich weiss das noch so genau, weil es der Tag war, an dem der Formel-1-Rennfahrer Jochen Rindt tödlich verunglückte. Was wir damals alles redeten, weiss ich natürlich nicht mehr. Irgend jemand zitierte im Verlauf des Abends aber den mir damals noch unbekannten Philosophen Voltaire: «Ich werde Ihre Meinung bis an mein Lebensende bekämpfen, aber ich werde mich mit allen Kräften dafür einsetzen, dass Sie sie haben und aussprechen dürfen.»

Dieser Satz, der in die aufgeklärte Kaffeehauskultur passt, hat mich seither begleitet. Er war vielleicht sogar mitschuldig, dass ich Journalist wurde, nachdem ich die Konditorlehre schon nach einem Jahr abgebrochen hatte. Manchmal bedaure ich das. Aber ich weiss auch: Als Cafetier hätte ich meinen Eltern nie das Wasser reichen können. – Sie waren denn auch nicht allzu überrascht, dass ich nicht Konditor wurde. Meine Grossmutter, die Naturärztin, hatte sie darauf vorbereitet. Aus irgendwelchen mir unbekannten Zeichen schloss sie kurz nach meiner Geburt: «Das wird kein Konditor. Eher ein Intellektueller.»

Eröffnung der Toilette im November 1966: Neben Peter Spörri die Galeristin Ida Niggli.

Jedenfalls aber verdanke ich dem Café Spörri anregende Kinder- und Jugendjahre und viele Erfahrungen. Der lustigste Tag von allen war vielleicht die Eröffnung der umgebauten Toilette im Herbst 1966. Wie alle anderen Um- und Erweiterungsbauten im Laufe der Jahre wurde der Anlass mit einer Einladung an Handwerker, Architekt, Medien und Stammgäste und mit Speis und Trank gefeiert. «Momoll, ein Hüsli so einweihen, das braucht Mut», sagte damals eine Journalistin: «Aber es zeigt die Liebe zum Detail.»

*Hanspeter Spörri, Jahrgang 1953, Journalist und Moderator, Teufen.

Die Appenzellerstube mit der um 1980 freigelegten und restaurierten Deckenmalerei aus dem 18. Jahrhundert. Bilder: Sammlung Spörri

 

Nostalgischer Rückblick auf einen Mythos

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