Mitten im Krieg heiratete Kriegsgefangener in Teufen

20.06.2015 | TPoscht online
03-IMG-01-10-329
Otto-Reichel_07
Internierte aus dem Bad Sonder bei der Heuernte, 1917. (aus: Reichel, Otto: Die deutschen Kriegsgäste der Schweiz. München 1917)

Thomas Fuchs*

Während des Ersten Weltkrieges, in den Jahren 1916 bis 1918, weilten insgesamt 67’726 kurbedürftige Kriegsgefangene und Zivilinternierte in der Schweiz – 64 davon auch in Teufen. Diese stiessen hier auf ganz unterschiedliche Behandlung.

Bis zu 33’770 Männer gleichzeitig waren in Schweizer Hotels und Kurhäusern untergebracht. Diese Art der Hospitalisierung und Internierung im neutralen Staat bedeutete ein Novum in der Kriegsgeschichte. Sie gehörte zu den wichtigen humanitären Aktionen der «Friedensinsel Schweiz».

Der Leutnant aus Berlin und seine Liebe

FerdinandBulle_WK1_0026
Das Hochzeitspaar Ferdinand Bulle und Mathilde Schuppli auf der Gartenterrasse von Frau Minister Roth (rechts neben der Braut) auf dem Büel in Teufen, Sommer 1916. (Klaus Bulle, Teltow)

Zu den ersten Internierten, die in die Ostschweiz kamen, gehörte Leutnant Ferdinand Bulle (1886–1943) aus Berlin. Er bewahrte bis zum Tod einen kostbaren Wecker – er musste nur alle zwei Wochen einmal aufgezogen werden – und eine marmorne Standuhr auf, welche er von Frau Minister Roth in Teufen als Hochzeitsgeschenk erhalten hatte. Mitten im «Grossen Krieg» konnte der deutsche Leutnant 1916 in Teufen seine Verlobte aus Österreich heiraten, was aus heutiger Sicht erstaunen mag.

Blumen für die Kriegsgefangenen am Bahnhof Teufen

Die ersten deutschen Kriegsversehrten aus Gefangenenlagern in Frankreich kamen am 2. Mai 1916 in die Ostschweiz. Von Lyon kommend trafen sie nach einer langen Eisenbahnfahrt um 9 Uhr am Bahnhof St.Gallen ein, wo sie von einer grossen Menschenmenge begrüsst wurden. Im geschmückten Saal der alten Post erhielten sie einen Imbiss. 70 Männer kamen danach ins Kurhaus Oberwaid in St.Gallen, 55 nach Teufen ins Bad Sonder.

03-IMG-01-10-329
Ankunft am Bahnhof Teufen, 2. Mai 1916. (Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden)

Letztere wurden bei der Ankunft am Bahnhof Teufen erneut «mit Blumen völlig überschüttet » und mit Liebesgaben beschenkt. Im Bad Sonder schliesslich wurde «den Kriegern und Zivilinternierten, die übrigens einen guten Eindruck machten, dank der hochherzigen Spenden von Frau Minister Roth und anderer Edelgesinnter, wiederum ein warmer Empfang zuteil. Sie mussten sich hierauf einer gründlichen Reinigung unterziehen und wurden mit frischer Wäsche versehen.» – so der Berichterstatter der Lokalzeitung «Säntis».

Zur Beruhigung der Einheimischen fügte er an, dass die neuen Uniformen für die ausländischen Soldaten und die Kurkosten (6 Franken pro Tag für Offiziere, 4 Fr. für Soldaten) vom Heimatstaat bezahlt würden. Schon bald herrschte «emsiges Treiben» im Bad Sonder, «da wird Wäsche gewaschen, Wäsche getrocknet usw.»

Nach wenigen Tagen rief der Platzarzt «wegen allzustarker Belästigung der deutschen Krieger» zur Besonnenheit auf. «Besuche ohne Erlaubnis und Massenbesuche überhaupt sind strenge verboten. Insbesondere ist das Zustecken von Esswaren usw. an den einzelnen Mann verboten. Wer den Internierten seine Sympathie durch Zuweisung von Liebesgaben bezeugen will, wird ersucht, solche dem Damenkomitee (Sammelstelle Frl. Augusta Zürcher, Dorf) zu überweisen. Das Damenkomitee ist jederzeit sehr dankbar für Beiträge in Bar, ferner für Leibwäsche, Seife, Gesellschaftsspiele, Schreibmaterial, Ansichtspostkarten, Zigarren, Tabak, Obst, Chokolade usw. Über den Empfang und die Verwendung von Liebesgaben wird genau Buch geführt und für gerechte Verteilung gesorgt.»

An den Eingängen zum Bad Sonder wurden entsprechende Tafeln angebracht. Den Wirten wurde die Weisung des Armeearztes in Erinnerung gebracht, die für eine übermässige Abgabe von alkoholischen Getränken an Internierte eine Schliessung der betreffenden Gaststube vorsah.

Das Lager im Bad Sonder

Sobald einige Männer soweit erholt waren, dass sie leichtere Arbeiten ausführen konnten, sah man sich nach geeigneten Beschäftigungen um. Eine Teufner Delegation besuchte im Juni 1916 in Brunnen den Einführungskurs für die Herstellung von Hausschuhen und gab das Erlernte im September an Kameraden in anderen Orten der Region weiter. Bis Ende Februar 1917 stellten in Teufen 14 Männer rund 800 Paar Pantoffeln her.

Im Verlauf dieses Jahres verlagerte sich die Tätigkeit auf landwirtschaftliche Arbeiten. Die Internierten halfen den Einheimischen und bestellten selber einen 1505 m2 grossen Pflanzgarten. Vom Spätherbst 1917 bis im Sommer des Folgejahres betrieben sie die Korbflechterei. Viele arbeiteten im Winter 1917/18 zudem «für ihren späteren Beruf, hauptsächlich geistig, wobei die Bücherzentrale in Bern tatkräftige Unterstützung» bot. Es gab auch Kurse in Deutsch, Englisch, Bürgerkunde und Stenografie. Im Herbst 1916 umfasste die Kolonie im Bad Sonder 23 Militär- und 6 Zivilinternierte.

Nach der Ankunft einer zweiten Gruppe am  15. Dezember («Sie sahen durchwegs bleich und kränklich aus.») registrierte man 53 Militär- und 11 Zivilpersonen. Im Spätherbst 1918 kehrten die Verbliebenen nach Deutschland zurück. Nicht mehr erleben durfte dies ein 36-Jähriger, der am 2. September 1918 im Kantonsspital St.Gallen seinem schweren Leiden erlag.

Zurück blieb kurze Zeit ein westfälischer Infanterist, der eine Haftstrafe wegen Körperverletzung absass.

Unliebsame Begegnung mit Schweizer Soldaten

Im August 1916 war der eingangs erwähnte Leutnant Ferdinand Bulle in einen unangenehmen Zwischenfall mit zwei Schweizer Soldaten verwickelt. Die beiden waren am Entlassungstag ihrer Einheit stark betrunken zu Fuss auf dem Heimweg von St.Gallen nach Teufen. Bulle überholte sie, worauf einer der Schweizer rief: «Lueg, da vorne isch so ne sauchoge Schwob, den wollen wir lehren zu salutieren». Er rannte dem Deutschen nach, beschimpfte ihn, packte ihn am Rock, drückte ihn ans Strassengeländer und bedrohte ihn mit der Faust. Bulle versuchte zu beschwichtigen.

Er konnte sich ins Restaurant Lustmühle retten und die Polizei anrufen. Der Schweizer belästigte ihn weiter. Am anderen Tag meldete dieser den Vorfall seinem Kompaniekommandanten und versuchte, sich bei Bulle persönlich zu entschuldigen. Er fand diesen aber nicht. Das Divisionsgericht verurteilte die zwei Teufner Soldaten zu drei Monaten respektive drei Wochen Gefängnis.

Bulle selber hatte ein Studium in Philosophie und Pädagogik abgeschlossen und war anfangs August 1914 voller Begeisterung eingerückt. Nach dem Durchmarsch durch Belgien hatte er am 8. September mit seiner Truppe ein erstes Gefecht (Schlacht am Ourcq) zu bestehen. Er wurde durch Artilleriefeuer schwer verwundet. Nach einem Aufenthalt im Krankenhaus in Rouen wurde er am 9. November 1914 in das Kriegsgefangenen-Offizierslager im Château de Fougères in der Bretagne verlegt. Seine Beinverletzung heilte sehr schlecht, er sehnte sich zurück an die Front. Später bekam er eine septische Rippenfellentzündung, aus der sich eine Tuberkulose entwickelte. Er befand sich unter den ersten Schwerkranken und -verletzten, die 1916 in der Schweiz interniert wurden.

thomas fuchs1

*Der Historiker Thomas Fuchs ist Leiter der Ortsgeschichtlichen Sammlung Teufen sowie Leiter des Museums Herisau. Dort ist diesen Sommer mehr zu erfahren über Leutnant Ferdinand Bulle und die Internierten im Appenzellerland, in der Ausstellung «Bourbakis, Deutsche, Polen, Briten – Kriegsinternierte im Appenzellerland 1871–1945», vom 12. Juni bis 27. Dezember 2015. Öffnungszeiten Mi–So 13–17 Uhr, für Gruppen auch sonst auf Anfrage.

AbbInt1
Briefumschläge aus Hamburg und Ohrdruf (Thüringen), adressiert an den Zivilinternierten Hans Baehr (geb. 1891) im Bad Sonder, August bis Oktober 1916. Den Kaufmann Baehr hatten die Franzosen am 2. September 1914 auf einem Schiff im Kanal arretiert. (Ortsgeschichtliche Sammlung Teufen)

Quellen: Appenzeller Zeitung 1916–1918; Bulle, Rosvitha: Vaters Leben zusammengestellt aus Briefen, unveröffentlichtes Typoskript. Halstenbek 1999; Säntis 1916–1918; Deutsche Interniertenzeitung 1917/18; Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden, Regierungsratsakten. * Ausstellung im Museum Herisau

 

www.museumherisau.ch

Top-Artikel

Top-Artikel

Anzeige

Anzeige

Amtlich_Haslenkreisel

Nächste Veranstaltungen

Freitag, 19.04.2024

Singlager – Schlusskonzert

Sonntag, 21.04.2024

anKlang Gottesdienst – Thema „Leidenschaft“

Aktuelles

×
× Event Bild

×
×

Durchsuchen Sie unsere 7178 Artikel

Wetterprognose Gemeinde Teufen

HEUTE

19.04.24 15:0019.04.24 16:0019.04.24 17:0019.04.24 18:0019.04.24 19:00
3.6°C3.4°C3°C2.6°C2.6°C
WettericonWettericonWettericonWettericonWettericon

MORGEN

20.04.24 05:0020.04.24 09:0020.04.24 12:0020.04.24 15:0020.04.24 20:00
0.8°C1.1°C2.4°C2.8°C0.9°C
WettericonWettericonWettericonWettericonWettericon