Vor 200 Jahren herrschte in Teufen Hungersnot

03.06.2016 | TPoscht online
Hungersnot 1 neu

Thomas Fuchs*

Die Hungersnot von 1816/17 hinterliess bei den Betroffenen einen so starken Eindruck, dass sich viele verpflichtet fühlten, die Geschehnisse und vor allem auch die Lehren daraus festzuhalten und weiterzugeben. Besonders in den evangelisch-reformierten Gebieten im deutschsprachigen Raum entstand eine grosse Zahl von Andenken. Aus Teufen sind deren fünf bekannt.

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Der im Appenzeller Brauchtumsmuseum in Urnäsch ausgestellte Schrank Früh-Knöpfel von 1817. (Stiftung für Appenzellische Volkskunde. Foto: zVg.

Das herausragendste Andenken, ein bemalter Schrank, wurde bereits in der Tüüfner Poscht vom Juli/August 2014 vorgestellt. Hier geht es um die anderen vier. Sie befinden sich in der Ortsgeschichtlichen Sammlung Teufen.

Hinterglasmalerei Tanner

«Wer weise ist behalte dieses zu einem immerwährenden Gedächniss und lehrne daraus den Ernst und die segnende Güte Gottes verstehen.» Mit diesem Zitat aus den Sprüchen Salomos schliesst die Erinnerungsschrift an die «zweÿ sehr denkwürdigen Jahre 1817 und 1818», die das Müllerehepaar Sebastian Tanner und Anna Elisabetha Küng aus Teufen 1823 anfertigen liess. Es handelt sich um eine von drei gleich gestalteten Spruchtafeln.

Die Auftraggeber der beiden anderen waren ebenfalls Müller, und zwar in Waldstatt und Schwellbrunn.

Hungersnot 1 neu
Ulrich Moosmann (1759 – 1830), Mogelsberg, Kronologische Bemerkung der zwei sehr denkwürdigen Jahre 1817 und 1818 für Meister Sebastian Tanner und Frau Anna Elisabetha Küng, auf der Mühle, Gemeinde Teufen, Hinterglasmalerei, 1823.

Als Hersteller dieser kleinen Kunstwerke konnte Hans Büchler aus Wattwil neulich den Fuhrhalter Ulrich Moosmann (1739–1830) aus Mogelsberg ausfindig machen. Die weisse Vignette in der Mitte zeigt die Berufssymbole und die Namenskürzel des Müllers (Wasserrad) und Bäckers (Brezel) M. S. B. T. (Meister SeBastian Tanner).

Die mit Goldfarbe hinterlegten Vignetten vergleichen die extremen Lebensmittelpreise auf dem Höchststand der Teuerung im Frühling 1817 (links) und die wieder einigermassen normalen Preise im Jahr 1818 (rechts). Weiter werden die Ereignisse dieser Jahre kurz beschrieben und theologisch kommentiert.

Für einen Sack Korn (Dinkel) musste im Frühling 1817 der hohe Betrag von 106 Gulden entrichtet werden, für ein Viertel Kartoffeln 4 bis 5 Gulden, für ein Pfund Brot 28 Kreuzer. 1818 bezahlte man normale Preise: 12 Gulden für den Sack Korn, 16 bis 20 Kreuzer für das Viertel Kartoffeln, 3 1/4 Kreuzer für das Pfund Brot (1 Gulden = 60 Kreuzer).

Zum Jahr 1817 wird zudem ausgeführt: «Dazu der Verdienst noch so schlecht, dass viel tausend Menschen ohne Arbeit und ohne Brod, den schrecklichen Tod des Hungers sterben mussten. Ich will mein Volk heimsuchen um seiner Missethat willen, und will ihm zeigen, dass ich der Herr Gott bin, den es verachtet hat.» Das abschliessende Bibelzitat (Ezechiel 10,5) gibt die allgemein verbreitete Meinung wieder, die Hungersnot sei eine Strafe Gottes, eine Art letzte Mahnung, zu den richtigen Tugenden zurück zu finden, die während der Zeit des Überflusses und später dann im Tummel einer alles umstürzenden Revolution und der anschliessenden napoleonischen Kriege untergegangen waren.

Eine gewisse Logik war dem angesichts der Ereignisse der vorangegangenen Jahrzehnte nicht abzusprechen. Wenn die Not als Lehre dient, erhält sie zudem einen Sinn und ist somit klarer zu bewältigen. Was über die Menschen gekommen war, hatten sie also verdient. Gott ist an keine Naturgesetze gebunden und kann jederzeit in den Gang der Dinge eingreifen. Darin äussert sich auch Kritik am Gedankengut der Aufklärung, ebenso an der Industrialisierung und dem dahinterstehenden Geist des Kapitalismus.

Die Ursache lag in Indonesion

Heute wissen wir, dass die Ursache für das «Jahr ohne Sommer» 1816 eine gigantische Vulkaneruption in Indonesien im April 1815 war. Sie hatte für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren Wetteranomalien von ganz unterschiedlichem Charakter zur Folge. In manchen Gebieten war es viel zu feucht (z. B. Westeuropa, China), in anderen zu trocken (z. B. USA, Südafrika), in den meisten zu kalt, in einigen aber auch besonders warm (z. B. Russland, Japan).

In der Schweiz war es nicht nur viel zu kalt, sondern es regnete auch fast permanent, ab 1900 Meter schneite es. Was trotz der Kälte wachsen konnte, wurde durch die Nässe zerstört.

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Unbekannter Künstler, Denkmal der ewig merkwürdig und besonders wichtigen Jahren 1817 und 1818, Tinte und Farbe auf Papier, ca. 1820.

Sogar der Zar half dem Appenzellerland

Die Inhalte der beiden weniger aufwändig gestalteten Spruchbilder bewegen sich auf derselben Linie. Sie legen aber mehr Wert auf die Wiedergabe von Ereignissen. Die grössere geht unter anderem auf Nothilfemassnahmen ein und erwähnt etwa, dass der Zar von Russland 15’000 Gulden zugunsten der Armen im Appenzellerland spendete. Sie gibt sogar einen Überblick über die Bevölkerungsentwicklung in allen Ausserrhoder Gemeinden im Jahr 1817. Im ganzen Kanton standen 3532 Verstorbenen nur gerade 1082 Geburten gegenüber. In den vorangegangenen Jahren waren erhebliche Geburtenüberschüsse üblich gewesen.

Einen etwas anderen Charakter haben die Aufzeichnungen von Wilhelm Waldburger im Leuenbächli. Seine beiden von Hand beschriebenen Seiten legen den Fokus auf die Ereignisse in seiner Wohngemeinde Teufen. Ein Auszug findet sich im Kästchen nebenan.

Teufen im Hungerjahr 1816/17

Teufen war, obwohl es zu den reichen Gemeinden im Kanton gehörte, von der Hungersnot besonders stark betroffen. 1817 standen 330 Verstorbenen nur 98 Geburten gegenüber, Ehen wurden nur gerade 11 geschlossen (gegenüber 52 und 44 in den Jahren zuvor). Bei einer Einwohnerzahl von gut 3950 Personen waren im Winterhalbjahr 1816/17 rund 1800 Personen auf Armenunterstützung angewiesen.

800 von ihnen hatten den Status von sogenannten Beisassen, waren also Bürger einer anderen Gemeinde im Kanton. Unter ihnen war die Not am grössten, sie blieben zunächst sich selber überlassen, denn damals waren die Bürgergemeinden für die Fürsorge zuständig.

Einige der Wohlhabendsten engagierten sich dann aber stark zugunsten der Notleidenden. Sie richteten unter anderem eine Suppenanstalt ein und riefen eine Industrieschule ins Leben. Sie liessen zur Arbeitsbeschaffung zudem eine neue Fahrstrasse nach St.Gallen bauen. Die Fabrikanten bemühten sich weiter, Aufträge für Handstickereien vermehrt in der eigenen Gemeinde und nicht ins Ausland zu vergeben.

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Unbekannter Künstler, im Juni 1817, Tinte und Farbe auf Papier, o.J.

«… und müssen doch noch viele Leüte vor Hunger sterben»

Die Theürung und Verdienstlosigkeit haben schon im vorigen Jahr 10 Monath gedauert. … Am Freÿtag vor der Landsgemeind schlagt das Brod 18 xr. [Kreuzer] auf einmahl auf und kostet also das Brod 1 fl. [Gulden] 28 xr. Es war kalt Winterwetter bis im Maÿen, an der Landsgemeind war es sehr traurig, am Landgemeind Morgen sind in Teüffen 5 Leichen zu beerdigen, und ist so kalt das alles gefroren, über Mittag schneit es so lang das Volk auf dem Gemeindsplatz steht, der Pfarrer hat zum Text gehabt aus dem 77. Psalm 11. Vers: Ich muss das Leiden, die rechte Hand des Höchsten kann alles ändern.

Die Leüte waren still und traurig und das Vieh schreit um Futter, der Centner Heü 4 bis 5 fl., das Klafter 10 bis 11 fl., die Lebensmittel stiegen von einer Woche zur andern und der Verdienst fallt von Zeit zu Zeit. Der Hunger, Jammer und Mangel wurde je länger je grösser, es wurde in der Gemeinde Teüffen alle Wochen gegen 400 fl. an die Armen ausgetheilt und müssen doch noch viele Leüte vor Hunger sterben. …

Die Witterung im Sommer ist recht schön, und die Früchte auf dem Feld, Gott seÿ dank, sehen prächtig aus, das es jedem des Herz erfreüt, das man gute Hoffnung hat auf ein wohlfeiles Brod, aber es mögen es viele Leüte nicht mehr erleben, bis Ende Heümonath [Juli] sind hier in Teüffen schon 174 Leichen beerdiget worden, den 1ten Sonntag im Augstmonath hat der Pfarrer 11 Leichen verkündt, den 2ten 13. In dieser Wochen schlägt das Brod 22 xr. ab, man ist wieder erfreüt worden, das Musmehl fallt in 2 Wochen von 8 fl. bis auf 4 fl.

(Ausschnitte aus den «Bemerkungen » über die Jahre 1816 und 1817 von Wilhelm Waldburger im Leuenbächli, Teufen. 1817)

 [grauer-kasten title=““ text=“Unter dem Titel «Hatili und die Hungersnot 1816/1817» zeigt das Museum Herisau bis Ende Jahr eine Sonderausstellung zum Thema. Dort sind auch die Teufner Andenken zu sehen. Öffnungszeiten: Mi – So 13 – 17 Uhr, für Gruppen auch sonst auf Anfrage.“ ]

*Thomas Fuchs ist Leiter der Ortsgeschichtlichen Sammlung der Gemeinde Teufen und des Museums Herisau.

[grauer-kasten title=“Sonderausstellung“ text=“Unter dem Titel «Hatili und die Hungersnot 1816/1817» zeigt das Museum Herisau bis Ende Jahr eine Sonderausstellung zum Thema. Dort sind auch die Teufner Andenken zu sehen. Öffnungszeiten: Mi – So 13 – 17 Uhr, für Gruppen auch sonst auf Anfrage.“ ]

www.museumherisau.ch

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