Vor 200 Jahren: Hungersnot auch in Teufen

12.07.2014 | TPoscht online
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Der normalerweise im Appenzeller Brauchtumsmuseum in Urnäsch ausgestellte Schrank Früh-Knöpfel von 1817. (Stiftung für Appenzellische Volkskunde. Fotos: zVg.

Ein derzeit im Zeughaus ausgestellter und ursprünglich aus Teufen stammender Schrank setzt sich mit dem Hungerjahr 1816/17 auseinander.

Thomas Fuchs

«Arbeit bringt Gewerb // Gewerb macht Reich. // Reichthum bringt Krieg. // Krieg Ruiniert u. // Krieg macht Arm.»: So lautet die Erkenntnis, welche die Eigentümer und der Maler zusammen mit fünf Medaillons neben den Türen des Schrankes festhielten. Als Besonderheit nimmt das Möbel in fast allen Sujets auf eine Katastrophe Bezug – auf das «Merckwürdige Jahr 1817». Einzig die vier Ehepaare auf den Eckleisten haben nichts damit zu tun.

Das Hungerjahr 1816/17

Bemalt wurde der Schrank gegen Ende des für die Ostschweiz besonders verheerenden Hungerjahres 1816/17, in dessen Verlauf, wie zwischen den Türen zu lesen ist, Getreide aus «Egipten! Russland und Italien» importiert werden musste. Die horrenden Lebensmittelpreise sind ebenfalls aufgelistet, dazu die Bitte: «O Herr! Dreÿ ding // bitte ich sonderbar von dir. // Dein heilsam Wort, // nimm nicht von mir, // das Täglich Brod zu jeder // Frist, und ein seeliges end // durch Jesum Christ.»

Auch in Teufen starben 1817 viele «den schrecklichen Tod des Hungers». 330 Verstorbenen standen nur gerade 104 Geburten gegenüber, während sonst erhebliche Geburtenüberschüsse üblich waren. In ganz Appenzell Ausserrhoden lag das Verhältnis bei 3532 zu 1082.

Einer Erinnerungs-Schrift aus Teufen entnehmen wir, dass 1817 ein Sack Korn 106 Gulden kostete, ein Viertel (= Hohlmass, ca. 18,46 Liter) Kartoffeln vier bis fünf Gulden und ein Pfund Brot 28 Kreuzer. Im Jahr darauf zahlte man wieder normale Preise: 12 Gulden für den Sack Korn, 16 bis 20 Kreuzer für das Viertel Kartoffeln, 3 1/4 Kreuzer für das Pfund Brot.

 

Sündhaftes Leben oder Blitzableiter als Ursache…

Das Übermass der Not verlangte nach erklärenden Ursachen. Im Unterschied zu den vielen übernatürlichen Deutungen wie dem göttlichen Strafgericht für sündhaften Lebenswandel oder der in Appenzell Ausserrhoden grassierenden Verschwörungstheorie über den negativen Einfluss der immer zahlreicher werdenden Blitzableiter auf das Wetter suchten unsere Schrankgestalter nach realen Gründen (vgl. die eingangs zitierte Formel «Krieg macht Arm»). Sie bezogen sich auf die vor kurzem beendeten Napoleonischen Kriege.

Heute wissen wir, dass die Ursachen komplexer waren. Eine zentrale Rolle gespielt haben dürfte ein Vulkanausbruch in Indonesien im April 1815, der riesige Mengen Schwefelgase in die Stratosphäre schleuderte. Diese waren wohl mitverantwortlich dafür, dass das Jahr 1816 in Mitteleuropa und Nordamerika ein «Jahr ohne Sommer» wurde. Allerdings lag es in Europa inmitten einer Reihe von Kältejahren ohne derart katastrophale Folgen.

Dass die Missernte des Sommers 1816 in Süddeutschland zu einer Hungerkatastrophe in der Ostschweiz führte, hatte auch politische und ökonomische Gründe: die völlige Abhängigkeit vom Getreideimport aus Süddeutschland, von den dortigen Staaten verhängte Ausfuhrsperren, die fehlende Vorratshaltung das viel zu späte Bemühen um andere Bezugsquellen, Wucher sowie eine Krise in der Textilproduktion, von der in Appenzell Ausserrhoden rund drei Viertel aller Einkommen abhingen. Zum dramatischen Anstieg der Lebensmittelpreise kam für viele der Verlust der Einkünfte.

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Medaillon mit der Müllerfamilie. (Stiftung für Appenzellische Volkskunde)

Bibelszenen auf den Türfeldern

Passend zur Thematik zeigen die Türfelder Bibelszenen mit Bezug zum täglichen Brot und zum Umgang mit Not. Zum Jahr 1817 passend sehen wir oben links Josef, der seine Brüder festlich bewirtet (1. Mose 43,31–34). Diese waren wegen einer Hungersnot nach Ägypten gekommen, um Getreide zu kaufen. Das Textband fasst die Vorgeschichte (1. Mose 37–43) eigenwillig verkürzt zusammen: «Die Söhne Jacobs verkauften ihren Bruder auf Egipten // darum werden sie gestraft mit Theürung! ihn um Brod // zu bitten.» Die Hungersnot wird zur Strafe für unrechtmässiges Handeln uminterpretiert.

Daneben befindet sich eine Abendmahlszene. Der Text bezieht sich jedoch nicht auf das letzte Abendmahl von Jesus, sondern auf eine Predigt, in der er verkündet: «Ich bin das Brot des Lebens: Wer zu mir kommt, wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.» (Johannes 6,35) Das Brot wandert auf die symbolische Ebene. Der Hunger der Seele nach einem erfüllten Leben und Sicherheit über den Tod hinaus kann nicht mit Brot gestillt werden, sondern nur im Glauben an Christus.

Unten links sehen wir die Geschichte von der kanaanäischen Frau, die Jesus um die Heilung ihrer Tochter anfleht (Matthäus 15,21–28). Die Szene will uns zeigen, wie der Reformator Martin Luther (1483–1546) mit Nachdruck betonte, dass uns gar nichts vom Rufen und Beten zu Gott abschrecken soll.

Trost und Hoffnung zum Schluss: Die letzte Szene präsentiert eine verkürzte Version der Geschichte vom guten Hirten Jesus, der notfalls sein Leben für seine ihn erkennenden Schafe hergeben würde und ihnen das ewige Leben schenkt (Johannes 10,11 & 10,27–29). Auf die Entstehungszeit des Kastens bezogen, kann das Bild auch als Appell an die Regierenden verstanden werden, sich für das Wohl ihrer Staatsangehörigen einzusetzen.

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Die Nordmühle am Wattbach, 1856. Bleistiftzeichnung von Johann Jakob Rietmann. (Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden)

Die Auftraggeber

Das mit dem Text «Gewerb macht Reich.» versehene Medaillon zeigt uns den Beruf der ersten Schrankbesitzer Johann Jakob Früh (1775–1855) und Anna Kathrina Knöpfel (1776–1854) – die Handelsmüllerei. Die beiden heirateten am 15. Februar 1803 und übernahmen dann von seinen Eltern die Nordmühle am Wattbach in Teufen, eine der grössten Kornmühlen im Appenzellerland.

Johann Jakob Früh stammte aus einer der grossen Müllerdynastien in Teufen. Der Bruder des Grossvaters war Eigentümer der Pfauenmühle am Goldibach, zwei von dessen Söhnen besassen Mühlen in Waldstatt (Unterwaldstatt) und Hundwil (Auermühle), welche von Söhnen weitergeführt wurden. Ein anderer Sohn des Auermüllers erwarb um 1816 die grosse Zürchersmühle in Urnäsch.

Die Ausstellung «Bauernkunst? Appenzeller Möbelmalerei 1700 –1860» im Zeughaus läuft noch bis anfangs September. Der Autor Thomas Fuchs geht am So, 31. August, 14 Uhr, im Rahmen einer öffentlichen Führung auf die ursprünglichen Eigentümer der bemalten Schränke ein.

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