16.11.2015

Zum Abschluss ein einsamer Höhepunkt

Das letzte Festkonzert der Bachkantorei unter Wilfried Schnetzler.

bachkantorei monteverdi (86)

Mit einem der ganz grossen – und lange verkannten – Werke der Musikgeschichte hat die Bachkantorei Appenzeller Mittelland am Wochenende ihr 30-Jahr-Jubiläum und gleichzeitig ihr Ende gefeiert.

Gottlieb F. Höpli

Die Marienvesper von Claudio Monteverdi, entstanden 1610 und drei Jahrhunderte lang vergessen, ist ein komplexes Werk zwischen Renaissance und Frühbarock und trägt neben sakralen auch konzertante, ja opernhafte Züge. Sie verlangt daher nicht nur den Aufführenden, sondern auch den Zuhörern mehr ab als etwa eine Bachkantate, die aus uns schon näherer Zeit stammt.

Doch in der vollbesetzten Grubenmann-Kirche herrschte am Samstagabend während über 90 Minuten konzentrierte Aufmerksamkeit. Die belohnt wurde mit fast überirdischen musikalischen Momenten, die einem Schauer über den Rücken jagen konnten: überraschende Raum- und Echo-Wirkungen (soweit sie eine reformierte Kirche überhaupt zulässt), meditative Versenkung, ekstatischer Jubel, mitreissende Rhythmen durch einen „wandernden“ Bass, wie er auch im Jazz und Pop verwendet wird.

Wilfried Schnetzler, der hochverdiente Gründer und Leiter der Bach-Kantorei Appenzeller Mittelland, hat mit einer unvergesslichen Aufführung dieses schwierigen Werks sich und uns ein kostbares Geschenk gemacht. Noch kaum je sind die Sängerinnen und Sänger in den vergangenen 30 Jahren wohl so gefordert worden wie in diesem „Vespro della Beata Vergine“. Transparenz und Klarheit der Stimmen, Dynamik und Rhythmus als kompakter Klangkörper – der Chor hat hier, in allen seinen Registern, eine Reifeprüfung abgelegt, die den Abschied schwer macht. Kaum vorstellbar, dass es für die rund 40 Chormitglieder mit dem Singen künftig vorbei sein soll!

Die vielfältigen und höchst anspruchsvollen solistischen Aufgaben der Marienvesper wurden von einem jungen Vokalensemble hervorragend gelöst: Angefangen beim umfangreichsten Part des virtuos beweglichen Tenors Raphael Höhn, über die Sopranistinnen Susanne Seitter und Alexa Vogel, die etwa dem höchst sinnlichen „Pulchra es“ aus dem Hohelied Glanz verliehen, zur Altistin Antonia Frey, dem Countertenor Timo Klieber, Höhns Tenor-Kollegen Achim Glatz, Nicolas Savoy und Manuel Gerber sowie den Baritonen Fabrice Hayoz und Daniel Pérez – allesamt mit untadeligen, mehr noch: mit rundum bestechenden Leistungen.

Zum Gelingen trugen die Musikerinnen und Musiker des Ensemble la Fontaine ganz wesentlich bei: als Beitrag zum austarierten, transparenten Klangbild, in präzis musizierten synkopierten Verzahnungen, im Jubel der Zinken und Posaunen. Da wurde nicht einfach „begleitet“, da wurde von Könnern der historischen Aufführungspraxis lebendig und kompetent mitmusiziert.

Unmöglich, die Höhepunkte der Aufführung alle zu benennen! Wie man gleich zu Beginn gefangen wurde durch die Tenor-Anrufung „Deus in adiutorum meum intende!“, das wie aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Die Tenor-Motette „Nigra sum“, der rhythmische „Flow“ des Continuos in Laetatus sum“, die Raumwirkungen der Tenorstimmen in „Duo Seraphim“, die fast opernhaften Echo- und Wortspiele in „Audi coelum“ , das Instrumental-Concerto „Sancta Maria“ – des Aufzählens dürfte eigentlich kein Ende sein!

Unmöglich hingegen, das abschliessende Magnificat nicht zu erwähnen, das nochmals alle Facetten dieses wunderbaren Werks versammelt, von der Innigkeit des „Et misericordia“ bis zum triumphalen Schlussjubel „Sicut erat in principio“ (wie es war im Anfang jetzt und immerdar) – das gilt auch  für die Faszination der Marienvesper Monteverdis!

Nachfolgend fotografische Impressionen vom Festkonzert der Bachkantorei in der Grubenmannkirche in Teufen.

 

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1 Kommentar

  1. Wilfried Schnetzler

    17.11.2015 / 16:23 Uhr

    Danke, Gottlieb Höpli für den passenden Text, dem (fast) nichts beizufügen ist. Und danke, Erich Gmünder für die schönen Fotos!
    Lieber Gottlieb, du sagst "Kaum vorstellbar, dass es für die rund 40 Chormitglieder mit dem Singen künftig vorbei sein soll!" Nun, wenn wir wirklich 40 Mitglieder hätten, könnte es möglicherweise auch weitergehen, vielleicht würde der Chor sich dann eine Struktur geben, welche eine dauernde Erneuerung ermöglichen könnte. Aber die Bach-Kantorei hat derzeit weniger als 20 Mitglieder, alle andern sind Projektsänger(innen), die für so ein tolles Projekt natürlich gerne nach Teufen kommen. Aber der Aufwand, der jedesmal für ein neues Projekt notwendig ist um die geeigneten Sänger anzuwerben und auszuwählen, ist riesig. Darin liegt ein Grund, dass sich der Chor entschlossen hat, mit diesem Höhepunkt aufzuhören.
    Und wer von den Choristen gerne weiter singen möchte: Es gibt zahlreiche Chöre, die nach neuen Sängerinnen und Sängern lechzen, fast alle kennen einen Mangel an guten Stimmen, vor allem auch Männerstimmen.
    Für mich persönlich war dieses letzte Projekt mit der Marienvesper, wie du schreibst "ein kostbares Geschenk", sowohl vom Werk her als auch von der Realisierung mit den grossartigen Solisten und Weltklasse-Musikern, welche zusammen mit dem Chor diesen Kosmos an Klängen und Emotionen gültig realisieren konnten. Für mich blieb in den beiden Konzerten die dankbare Aufgabe, auf dem gut vorbereiteten Instrument alle Register zu ziehen und im wahrsten Sinne des Wortes Musik entstehen zu lassen. Ich hoffe zur Freude der vielen Konzertbesucher sowohl in Teufen als auch in Gossau.

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