Das grosse Herantasten

10.03.2022 | Timo Züst
ukraine_ankunft (6)

Die eigentliche Rettung ist geglückt: Heute Nachmittag trafen zwei Cars mit ukrainischen Flüchtlingen in Teufen ein. Hier wurden sie begrüsst, mit dem Nötigsten versorgt und ihren Gastfamilien zugeteilt. Es ist eine Szenerie, die bewegt – und ein bisschen sprachlos macht.

Als Journalist erlebt man immer wieder Situationen, in denen man sich nutzlos fühlt. Besonders dann, wenn es ernst wird. Bei einem Verkehrsunfall, einem Brand, einer Überschwemmung. Man steht einfach da, macht grosse Augen und versucht, möglichst nicht im Weg zu stehen. Der kleine Notizblock in der Hand und die Kamera um den Hals reichen dabei kaum als Daseinsberechtigung. Einige Berufskolleginnen und -kollegen scheint dieses Gefühl nicht zu plagen – mich schon. Meine übliche Taktik: Selbstironie und Verdrängung. Man hat schliesslich einen wichtigen Auftrag zu erfüllen. Heute hätte das fast nicht gereicht. Ich kam mir selten überflüssiger vor als an diesem Nachmittag bei der Ankunft der rund 120 Flüchtenden aus der Ukraine. Diese Menschen sind aus ihrem Heimatland geflohen. Vor dem Krieg, der vor zwei Wochen in Form des «Russischen Bären» über die Ukraine hereingebrochen war. Sie sind seit Tagen auf der Flucht, waren über 20 Stunden im Car, haben wohl kaum gegessen, geschlafen, geduscht. Jetzt, endlich, sind sie in der Schweiz. Der Ort, der Sicherheit und Erholung verspricht. Und was tut die «Tüüfner Poscht»? Sie zielt erstmal mit der Kamera auf sie.

Ein ungewöhnlicher Einstieg für einen Artikel über die «geglückte und erfreuliche» Rettungsaktion. Keine Sorge; der eigentliche Bericht folgt unten. Hier soll bloss gesagt sein: Die TP wird sich im Zusammenhang mit dieser Tragödie nicht am Voyeurismus beteiligen. Aber wir werden hier und auch in Zukunft weiter über die «Teufner Rettungsaktion» berichten. Und wir ziehen den Hut vor allen, die an ihr aktiver beteiligt sind als wir.

Empfang und Gebet

Roman Kissil hat eigentlich keine Zeit für Fragen. «Sie will mit Fleisch, ja», sagt er der Helferin an der Fassstrasse. Sie schöpft die Sauce auf die Pasta (gekocht hat der «Hirschen»). Wenn Gestik und Englisch nicht mehr ausreichen, springen die Helfenden in den blauen T-Shirts ein. Einer davon ist der 41-jährige Roman. Der Landmaschineningenieur lebt und arbeitet schon seit einem Studienaustausch vor vielen Jahren in der Schweiz. Aufgewachsen ist er aber in Lwiw (Lemberg) im Westen der Ukraine. Der Ort, an dem gestern die 120 Flüchtenden in die beiden Cars stiegen. Er spricht sowohl fliessend Deutsch als auch Ukrainisch. «Über den Ukraine-Verein wurde nach Helfern gesucht. Da habe ich mich natürlich gemeldet.» Er steht an diesem Nachmittag – wie alle im Pfarreizentrum Stofel – unter Dauerstrom. Aber unter der Oberfläche brodelt es. Seine Mutter ist zwar bei ihm zuhause. Sie war zufälligerweise auf Besuch, als der Krieg ausbrach. Aber die Familie seiner Frau versteckt ist daheim in Tschernikow (nahe Weissrussland) im Keller. «Dort fallen gerade die Bomben. Sie verbringen die meiste Zeit unter der Erde: Zum Essen und Waschen kurz rauf, dann wieder runter.» Bis jetzt funktioniert die Kommunikation via WhatsApp noch. Und alle sind wohlauf. «Wir warten und hoffen. Fliehen können sie nicht mehr», sagt Roman bzw. «Romah».

Eine gute Stunde zuvor wurden die Flüchtenden in der Kirche begrüsst: Von Diakon Stefan Staub, Kirchgemeinde-Präsidentin (Evg.-ref.) Marion Schmidgall, «Freundes-Dienst»-Präsident (Hilfswerk) Samuel Schmid, Gemeindepräsident Reto Altherr und von Bischof Markus Büchel. Die Ansprachen forderten den Übersetzer und die erschöpften Zuhörenden. Es muss für sie eine Wohltat gewesen sein, als Dmytro Sidenko, Vizepräsident der «Ukrainian-Swiss Business Association», das Wort in seiner Muttersprache ergriff. Und noch etwas vermochte die Sprachbarriere mühelos zu überbrücken: die ukrainische Hymne, für die sich die Gäste geschlossen erhoben. Nach der Begrüssung begann die eigentliche Herausforderung des Tages: Die Einteilung der Flüchtenden auf ihre Gastfamilien.

SIM-Karte und Zugticket

«Ich glaube, sie wissen selbst noch nicht so genau, was sie brauchen. Vermutlich erst einmal Ruhe.» Dmytro Sidenko ist der «Blaue» unter den «Gelben» beim «Welcome Desk». Er vermittelt zwischen den Flüchtenden und den Helfenden der Rettungsaktion, die an ihrem gelben T-Shirt zu erkennen sind. Hier werden die Personalien aufgenommen, die dringendsten Fragen (medizinisch etc.) geklärt, die definitive Zuteilung gemacht – und Begrüssungs-Couverts abgegeben. Darin befinden sich eine SIM-Karte (gratis Telefonie in die Ukraine), ein Zugticket (gratis Bahnfahrt AB und SBB), die wichtigsten Infos und ein kleines Sackgeld (50 Franken pro Person). «Wir sind in engem Kontakt mit den Organisatoren der Aktion und helfen, wo wir können. Diese Spende war eine erste Möglichkeit», sagt Gemeindepräsident Reto Altherr.

Grosse Hilfsbereitschaft

Die Gastfamilien befinden sich in Wartestellung im Untergeschoss des Pfarreizentrums. Hier stehen eine Kaffeemaschine und Getränke. Wirklich lange warten müssen aber die wenigsten. Sie werden einer nach dem anderen aufgerufen und nach oben geführt. Seit Mittwochabend wissen sie, wie viele Personen zu ihnen kommen. Die Unterbringungen sind sehr individuell organisiert: Eine freistehende Einliegerwohnung, ein Airbnb, leere Kinderzimmer, ein Büro. «Wir haben uns so gut wie möglich vorbereitet und sehen jetzt, was auf uns zukommt. In solchen Situationen muss man einfach ‘machen’ und flexibel bleiben. Das klappt dann schon», sagt Georg Winkelmann. Er nimmt bei sich Zuhause im Bühler eine Familie aus – in einem leeren Hausteil. Auf die Flexibilität der Gastfamilie sind nicht nur die Flüchtenden, sondern auch die Organisatoren der «Teufner Rettungsaktion» angewiesen. Bei einer kurzen Info im Wartezimmer sagt Seelsorgerin Franziska Heigl: «Wir wissen, dass noch vieles offen ist. Zum Beispiel im finanziellen Bereich. Wir klären das ab, so schnell wir können. Wir bitten euch bis dahin um Geduld und Verständnis. Das ist für uns alle Neuland.»

Einen Stock weiter oben klopft Gemeinderat Marco Sütterle (gelbes T-Shirt) Diakon Stefan Staub auf die Schulter. Er ermahnt: «Stefan, denk dran: Weitere Infos morgen.» Der seufzt: «Ja, ja, ich weiss. So wenig Zeit.» Hier zwischen Weihwasserspender und Kirchenbänken treffen Gastfamilie und Flüchtende zum ersten Mal aufeinander. Mit der Hilfe einer Übersetzerin versucht Stefan Staub bei der Vorstellung nochmal einige Infos zu vermitteln. «Wir tun, was wir können. Aber ich denke, sie müssen jetzt wohl erstmal ankommen. Alles andere folgt dann.» Wiedersehen werden sich die Gäste wohl schon bald: Bereits morgen ist der «Ukrainische Treffpunkt» im Stofel zum ersten Mal geöffnet (10 bis 17 Uhr).  tiz

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