Gäste aus dem Krieg

08.03.2022 | Timo Züst
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Diakon Stefan Staub spricht vor einem vollen Saal potenzieller Gastgeberinnen und Gastgeber.. Fotos: tiz

Um halb 1 in der Nacht auf Dienstag sind sie losgefahren: Die beiden Cars, die 120 ukrainische Flüchtende in die Ostschweiz holen sollen. Voraussichtliche Ankunft in Teufen: Donnerstagvormittag. Einige Stunden zuvor besammelten sich im Saal deren zukünftige Gastfamilien. Sie wurden von den Initianten der spontanen Hilfsmission über die Herausforderungen und Chancen der nächsten Tage und Wochen informiert. Klar wurde dabei vor allem: Es braucht viel Verständnis und Flexibilität.

Sie wollen helfen?

Der Bedarf an Gastfamilien ist für den Moment gedeckt. Aber: Sowohl finanzielle als auch materielle Spenden sind weiterhin sehr willkommen. Weitere Informationen finden Sie hier.

Applaus bedeutet nicht immer das gleiche. An diesem Abend wird zweimal geklatscht. Das erste Mal aus Anteilnahme und Respekt. Es ist die Reaktion auf die Botschaft, die Dmytro Sidenko an die Anwesenden richtet: «Vielen, vielen Dank. Wir werden Ihnen helfen, wo wir können. Sie müssen diese Last nicht allein schultern.» Seine aufrichtige Dankbarkeit wird durch seinen melodiösen Akzent unterstrichen. Dmytro Sidenko spricht zwar tadelloses Deutsch, seine ukrainische Herkunft ist ihm aber anzuhören. Er ist Vizepräsident der «Ukrainian-Swiss Business Association». Heute geht es aber nicht um Wirtschaft, sondern um Menschlichkeit. «Wir haben eine Mutter mit zwei kleinen Kindern aufgenommen. Jeder ukrainische Haushalt in der Schweiz hat schon jemanden bei sich. Wir haben einfach keinen Platz mehr.» In diese Bresche wollen seine Zuhörerinnen und Zuhörer im Kirchgemeinde-Saal im Stofel springen. Sie sind dem Aufruf von Diakon Stefan Staub gefolgt und haben sich als Gastfamilie angeboten – und das in Rekordzeit. «Was er hier in fünf Tagen auf die Beine gestellt hat, ist wirklich unglaublich», sagt Samuel Schmid. Damit löst er den zweiten Applaus aus. Er gilt dem Team der katholischen und evangelisch-reformierten Kirchgemeinden und ihren zahlreichen Helfenden, die diese Rettungsmission aus dem Boden gestampft haben. Aber auch Samuel Schmid. Er ist Präsident des Hilfswerks Freundes-Dienst Schweiz, das auch in der Ukraine tätig ist. Seine Mitarbeitenden berichten ihm aus erster Hand von der Lage in einem Kriegsgebiet, das bis vor wenigen Tagen noch ein friedliches europäisches Land war.

Kinder und Frauen

«Sie haben die Bilder sicher gesehen. Und die schrecklichen Nachrichten gelesen. Leider muss ich Ihnen bestätigen: Teilweise wird wirklich auch auf Zivilisten gefeuert», sagt Samuel Schmid. Und nicht nur das: Wie so oft im Krieg wird das logistische Versagen der Armee auf dem Rücken der Zivilisten ausgetragen. «Die russische Armee hat Nachschubprobleme. Das bedeutet: Sie plündern die Wohnungen der Ukrainer und reissen sich alles unter den Nagel. Wer sich widersetzt, wird erschossen.» Es ist nicht einfach ihm zuzuhören. Noch immer wirkt es surreal: Es ist Krieg. In Europa, in der Ukraine, ein Land, in dem bis vor 14 Tagen alles noch ganz normal war, 1200 Kilometer entfernt. Diese 1200 Kilometer haben in der Nacht auf Dienstag zwei Cars in Angriff genommen. Sie sollen kurz hinter der polnisch-ukrainischen Grenze 120 Flüchtlinge aufnehmen – und zurück nach Teufen bringen. «Bei diesem Menschen handelt es sich hauptsächlich um Kinder und Frauen. Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land derzeit nur in wenigen Ausnahmefällen verlassen.» Läuft alles nach Plan, kommen diese Menschen am Donnerstagvormittag in Teufen an. Nach einer Verschnaufpause und einer warmen Mahlzeit im Stofel werden sie ihren Gastfamilien zugeteilt.

Gute Freunde und ein schlagkräftiges Team: Samuel Schmid (Präsident Hilfswerk Freundes-Dienst) und Diakon Stefan Staub (rechts).

Traumata und Erschöpfung

Begonnen hat alles mit einem Anruf aus Kiew. Samuel Schmids Mitarbeiter vor Ort berichtet ihm von der Lage in der Stadt. «Er sagte: Die Menschen müssen hier so schnell wie möglich weg. Also rief ich Stefan an.» Diakon Stefan Staub und Samuel Schmid verbindet eine lange Freundschaft. Dieser Rettungskonvoi ist nicht ihr erstes gemeinsames Projekt. Trotzdem: Etwas Vergleichbares haben auch sie noch nie erlebt. «Natürlich ist das für uns Neuland. Wer hätte sich diese Situation schon ausmalen können? Aber die Hilfe braucht es jetzt. Unbürokratisch und schnell. Diese Menschen müssen jetzt erst einmal in Sicherheit kommen», so Stefan Staub. Er setzte deshalb alle Hebel in Bewegung, um genügend Helfer, zwei Cars, die nötigsten Hilfsgüter und etwas Geld zu organisieren. «Mir war klar: Das finden wir alles.» Die grösste Herausforderung der Aktion: die Gastfamilien.

Denn, das machte Samuel Schmid bei seiner Ansprache klar: «Das ist kein Sprint, sondern ein Marathon.» Niemand kann heute sagen, wie lange der Krieg in der Ukraine dauert. Und niemand weiss bisher, wie Europa und die Schweiz mit der Flüchtlingswelle umgehen werden. «Natürlich müssen die Behörden handeln. Aber das braucht Zeit.» Mindestens bis klar ist, welchen Status die Flüchtenden erhalten – im Gespräch ist der «S-Status» nach spätestens 90 Tagen – werden sie bei den Gastfamilien verbleiben. Und das ist eine Herausforderung für beide Parteien. «Viele dieser Menschen, speziell aus der Donbass-Region, haben ihre Heimat noch nie verlassen. Alles hinter Polen ist für sie komplettes Neuland. Sie wollen grundsätzlich nicht hier, sondern daheim sein», sagt Samuel Schmid. Entsprechend gross könne anfangs die Skepsis sein. Dazu kommen die Traumata des Kriegs, die gewaltige Erschöpfung der Flucht und die grosse Angst um ihre Heimat. «Für solche Situationen gibt es keine generellen Regeln. Es wird viel Toleranz und Verständnis brauchen. Und an oberster Stelle steht die absolute Unversehrtheit und Integrität der Flüchtenden», so Stefan Staub.

Sie fahren mit an die ukrainische Grenze (v.l.n.r.): Conny und Andy Mestka, Ueli Schleuniger, Regula Ramseyer und Tagblatt-Journalist Raphael Rohner.

Helpline und Treffpunkt

Die Hilfsbereitschaft ist gross. Das zeigt die Anzahl der Zuhörerinnen und Zuhörer im Saal. Aber: Sie alle haben noch viele Fragen. Auf welche Sprache sollen wir kommunizieren? Was essen die Ukrainer am liebsten? Woher kriegen wir passende Kleidung? Bekommen die Flüchtenden eine Art «Sackgeld»? Was passiert in einem medizinischen Notfall? Und vor allem: Was brauchen sie am dringendsten? Auf fast alle Fragen können Stefan Staub und Samuel Schmid eine Antwort geben. Aber einiges ist auch noch ungeklärt: «Die Situation entwickelt sich laufend. Klar ist: Wir haben von allen Seiten die nötige Hilfe zugesichert bekommen – medizinisch, finanziell, materiell und bürokratisch.» Zudem sollen im Saal im Stofel und im Kirchgemeindehaus Hörli Treffpunkte für die Flüchtenden eingerichtet werden. Hier können sie sich in ihrer Sprache austauschen, bekannte Gesichter sehen und auf ein (hoffentlich) stetig wachsendes Angebot (Unterhaltung, Kurse etc.) zugreifen. Für Notfälle wurde zudem eine Helpline für Gastfamilien eingerichtet. Und was das Essen angeht: Da seien die Ukrainer unkompliziert, meint Dmytro Sidenko: «Nur die Schweizer Zwiebeln, die sind etwas komisch.»  tiz

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